Was Deutschland gegen England verändern muss

Es ist ein Klassiker im internationalen Fußball: England gegen Deutschland. Im Achtelfinale der diesjährigen Europameisterschaft treffen beide Nationalteams zum 37. Mal in der Geschichte aufeinander. Aktuell haben beide Mannschaft sehr viel gemeinsam. Übrigens ist dieser Text auch auf Englisch verfügbar.

Sowohl England als auch Deutschland verfügen gerade in der Offensive über eine Anhäufung an hochkarätigen Individualisten, bringen aber die Pferdestärke nur bedingt auf die Straße. Gareth Southgate und Joachim Löw überzeugen nur selten mit ihrer taktischen Arbeit. Southgate setzt eventuell ein Stück weit zu sehr auf spielerische Stabilität, während Löw das Ballbesitzspiel zu schematisch und vorhersehbar gestaltet.  

Mit Blick auf die bisherigen Partien bei dieser EM wirkt es fast so, als müsste sich der deutsche Gegner selbst schlagen. Denn Löw passt die eigene Spielweise allenfalls marginal an. Er setzt auf die immer gleichen Abläufe, die mal mehr und mal weniger erfolgreich sind. Die Duelle mit Portugal und Ungarn veranschaulichten das eindrucksvoll: Während Portugal im Defensivdrittel sehr kompakt verteidigte und die Flügel frei ließ, besetzte Ungarn die Außenbahnen mit zwei aktiven und dynamischen Flügelverteidigern. Das Resultat war, dass die deutschen Außenspieler, Robin Gosens und Joshua Kimmich gegen Portugal auftrumpfen konnten und gegen Ungarn weitestgehend wirkungslos blieben. 

Ein anderes Beispiel für Löws Inaktivität betraf Matthias Ginter und dessen Auftritt gegen Ungarn. Das gegnerische Pressingschema ließ Ginter bewusst ungedeckt, um den Ball zum Mönchengladbacher zu leiten. Ginter fand sich ohne Anspielstation im Mittelfeld wieder und schlug teils aus Verzweiflung oder Verunsicherung einige Halbfeldflanken. Löw half Ginter, der eigentlich zu seinen Lieblingsschülern zählt, nicht und wartete bis zur Halbzeitpause, um einen Formationswechsel zu vollziehen. 

Alternativen zu den Flügelangriffen

Das deutsche Angriffsspiel ist in jedem Fall von Diagonalbällen und Angriffen über die Außenbahnen geprägt. England spielt wie Portugal in einem 4-2-3-1, praktiziert die Formation allerdings in der Defensive ein wenig anders. Die englischen Außenverteidiger stehen nicht so eng zu den Nebenmännern wie die portugiesischen – was sich etwa an den Orten der Defensivaktionen von Linksverteidiger Luke Shaw ablesen lässt. 

Solange Shaw und Kyle Walker (oder ein anderer Rechtsverteidiger) den Kontakt zu Kimmich und Gosens halten, werden zumindest Diagonalbälle in der Frühphase von Angriffen kein probates Mittel für die deutsche Mannschaft sein. Doch die Deutschen müssen Wege finden, um die ersten Phasen im Ballbesitz nicht nur ohne Ballverlust zu überstehen, sondern auch effektiven Raumgewinn verzeichnen. Allzu langes Ballgeschiebe kann gegen England gefährlich werden, sobald die erste Linie ins hohe, oftmals mannorientierte, Pressing geht.

Gerade deshalb müsste es den Deutschen endlich gelingen, die Spielfeldmitte besser zu nutzen. Bis dato bleiben die Angriffe durchs Zentrum meist wirkungslos, weil es keine Staffelungen ganz vorn gibt. Vielfach bewegen sich die drei Stürmer auf einer Linie. Ohne vertikale Bewegungen fehlt die Dynamik und kann es auch nur schwerlich gelingen, die Abwehrorganisation durcheinander zu bringen. 

Die Pässe aus dem Mittelfeld sind präzise genug, dass sie in den Zwischenlinienraum vor die Abwehr gelangen können, wie im Spiel gegen Portugal ersichtlich wurde. Doch wenn im Anschluss stets die Weiterleitung zum Flügel versucht wird, kann das gegen eine Verteidigung wie jene von England erfolglos bleiben. Wie die Grafik von Kai Havertz zeigt, ist die durchschnittliche Position der drei vordersten Spieler im deutschen 3-4-3 fast identisch, was die Höhe betrifft. Die meisten Folgeaktionen nach Ballannahmen gehen dann nach außen.

Mehr Dynamik im Zentrum

Es gibt einige Möglichkeiten, diesen Zustand zu verändern. Gehen wir aber mal davon aus, dass Bundestrainer Löw seine 3-4-3-Grundformation nicht signifikant verändern wird, so müssen entweder einzelne Rollen anders interpretiert oder mit anderem Personal besetzt werden. Eine offensichtliche Option bestünde in der Hereinnahme von Leon Goretzka anstelle einer der angestammten Mittelfeldakteure. 

Goretzka würde mit seinen raumgreifenden Läufen in die vorderen Zwischenlinienräume für Dynamik sorgen und vielleicht auch ein wenig organisatorisches Chaos bei den englischen Sechsern verursachen. Damit wäre das Problem der relativen Statik in der deutschen Angriffsreihe nicht behoben, aber die damit verbundenen Negativeffekte etwas ausgemerzt.

Zudem kann Goretzka auch in der Rückwärtsbewegung physisch Kalvin Phillips Paroli bieten. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Deutschen womöglich mehr Ballbesitz haben, die Engländer aber auch nicht gänzlich auf Spielanteile verzichten werden. Phillips hat zu Beginn des Turniers gezeigt, dass seine Vorstöße ein wichtiger x-Faktor im englischen Angriffsspiel sein können. 

Southgates System ist von einem großen Drang nach Stabilität geprägt, weshalb Phillips mit Vertikalläufen für notwendige Unwuchten sorgen könnte. Goretzka wäre zudem wichtig, um mit seiner raumgreifenden Art den eigenen Zwischenlinienraum vor Mats Hummels und Co. abzusichern. Englands Angriffe laufen gerne mal über Harry Kane, der sich zurückfallen lässt und die Pässe aufnimmt. Natürlich könnte jeweils ein deutscher Verteidiger aus der Dreierkette Kane verfolgen. Aber zu häufig sollte das auch wiederum nicht passieren, denn dann geht der deutschen Defensive aufgrund zu langsamer Verschiebebewegungen die Kompaktheit verloren. 

Goretzka ist gewiss nicht die alleinige Lösung für Deutschland, aber unter den gegebenen Umständen – insbesondere in Anbetracht von Löws relativer Inflexibilität – könnte er der richtige Kandidat im zentralen Mittelfeld sein. Ganz grundsätzlich muss Deutschland stärker die Mitte bespielen, die Außenbahnen punktuell und weniger ausrechenbar nutzen und darüber hinaus gegen Englands Zentrum absichern. Leichter gesagt als getan. 


Alle Grafiken und Visualisierungen in diesem Artikel stammen aus der Twenty3 Toolbox. Es werden die Daten von Wyscout verwendet. 

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